Leseprobe: Läufer

Prolog


Am Nachthimmel tanzten Polarlichter in grünen und violetten Schleiern, so zahlreich, dass der Himmel selbst zu glühen schien. Als der Mann am Nachmittag im Radio hörte, dass ein extremer Sonnensturm sogar hier im Süden spektakuläre Erscheinungen möglich mache, hatte er kurzerhand beschlossen, das Schauspiel mit eigenen Augen zu sehen. Er wollte sich ins Auto setzen, einen abgelegenen Platz hoch oben auf einem der umliegenden Berge suchen und dieses seltene Ereignis fotografisch festhalten. 
Seine Kamera klickte unermüdlich, der Speicherchip füllte sich Bild für Bild. Und doch war da ein leiser Stich in seinem Herzen. Schade, dass seine Frau nicht mitgekommen war. Früher hatten sie solche Nächte gemeinsam erlebt, besonders im August, wenn die Sternschnuppen über den Himmel zogen. Dann saßen sie eng aneinander gekuschelt auf einer Decke, tranken Wein, schauten in die Sterne, und liebten sich.
Aber das war früher einmal. Heute blieb sie am liebsten zu Hause, ging früh ins Bett, starrte noch eine Weile in den Fernseher, und schlief meist einfach ein. Sex war schon lange kein Thema mehr.
Er öffnete sich ein Bier, setzte sich auf die Einstiegskante der Heckklappe seines Kombis und zündete sich eine Zigarette an. Der Gedanke an seine Frau, an Intimität mit ihr und das immer noch warme Gefühl im Magen, wenn er an sie dachte, lenkte ihn für eine Weile ab.
Als er wieder aufsah, traute er seinen Augen kaum. Die Polarlichter hatten deutlich an Intensität gewonnen und tauchten die Nacht in ein fast taghelles Licht. So etwas hatte er noch nie erlebt. Wenn doch nur seine Frau jetzt hier wäre!
Der Anblick war schlicht atemberaubend. Er drückte den Auslöser der Kamera, kurz flackerte der Bildschirm, erlosch aber sofort wieder. Noch ein Versuch, doch nichts geschah. Vermutlich war der Akku leer. Schon lange hatte er vorgehabt, neue zu besorgen, aber es immer wieder aufgeschoben.
Hastig griff er in die Fototasche, zog einen Ersatzakku hervor, fummelte ihn in die Kamera und versuchte erneut, ein Foto zu machen. Wieder nichts. Leise fluchend probierte er einen weiteren, ebenfalls ohne Erfolg. Schulterzuckend packte er die Ausrüstung zusammen und stellte sie auf den Beifahrersitz. Schade. Zwar hatte er ein paar schöne Bilder gemacht, aber ob das letzte gelungen war, blieb fraglich.
Nun meldeten sich auch noch Kopfschmerzen. Natürlich. Wenn etwas schiefgeht, dann richtig. Trotzdem verspürte er noch keine Lust, heimzufahren. In der Kühlbox warteten noch Bier und ein paar deftige, geräucherte Würste. Seine Frau schlief sicher schon. Die Nacht war angenehm warm, kein Grund zur Eile.
Er trank sein Bier, ließ den Blick über die immer intensiver werdenden Polarlichter schweifen und dachte weiter an seine Frau. Noch immer, nach all den Jahren, huschte ein Lächeln über sein Gesicht, wenn er an sie dachte.
Doch die Kopfschmerzen wurden stärker, und er entschloss sich, den Heimweg anzutreten. Neugierig war er schon, wie die Bilder geworden waren. Der Zündschlüssel steckte, ließ sich drehen, aber nichts geschah. Keine Anzeige, kein Anlasser, kein Geräusch. War jetzt auch noch die Batterie hinüber?
Wütend schlug er mit der Hand aufs Lenkrad. Die Kopfschmerzen schienen sich dadurch zu verschlimmern. Klar, die Batterie war alt, hatte aber bisher immer funktioniert. Hier oben im Wald würde es schwierig werden, den Pannendienst zu rufen, schon, weil er gar nicht genau wusste, wo er war.
Also griff er zur letzten Hoffnung: dem Smartphone. Doch auch das reagierte nicht. Wie zuvor die Kamera und jetzt das Auto, nichts.
Was war hier los? Die Wut stieg in ihm auf.
Welche Optionen blieben ihm? Den Wagen stehen lassen und zu Fuß heimgehen? Bei dieser Entfernung keine wirkliche Lösung. Wieder dachte er an seine Frau. Wenn sie aufwachte und er nicht da war, würde sie sich sorgen. Aber war sie nicht selbst schuld? Sie hätte ja mitkommen können.
Unbewusst begann er, immer wieder auf das Lenkrad einzuschlagen. Der Gedanke, dass sie ihn scheinbar gar nicht mehr würdigte, ließ ihn nicht los. So wütend war er noch nie gewesen.
Diese Erkenntnis war sein letzter klarer Gedanke.