
Leseprobe: Auf allen Vieren
Erster Tag
Sonntag
Matz, ein guter Freund, fuhr mich zunächst zu einer gemeinsamen Freundin in Medelsheim, bei der wir noch einmal zusammen frühstückten. Mit einigem Entsetzen wurde hier noch einmal meine Planung in Worte gefasst:
»Wie, du weißt zwar, wo du hin musst, aber nicht, wie du hin kommst?«
Anschließend setzte er mich aus. Direkt am Weg. Natürlich begann der Weg an einer Kirche, genau genommen einer Friedhofskapelle. Wir alberten noch ein paar Minuten herum, machten ein paar Bilder, dann marschierte ich los, und schon nach etwa ein oder zwei Kilometern wurden mir zwei Dinge bewusst: Mein Gepäck ist deutlich zu schwer und ich bin nun allein. Auf mich gestellt.
Mir ging erneut die Frage durch den Kopf, was ich hier eigentlich tat. Auf was ließ ich mich da gerade ein?
Ich wusste zwar an diesem Tag, wo ich schlafen würde, aber nicht für die nächsten. Okay, das war früher, als ich noch LKW fuhr, und auch im Jahr davor in Irland normal, ja geplant. Aber da hatte ich auch immer ein Auto dabei, und wenn ich ein Auto habe, habe ich auch einen Schlafplatz.
Jetzt war es Oktober, Herbst, und da schläft es sich im Freien auch nicht immer so angenehm. Außerdem ist man im Auto wesentlich flexibler dabei, nochmal eben ein paar Kilometer weiterzufahren, als wenn man zu Fuß läuft. Das Gepäck liegt im Kofferraum und nicht auf dem Rücken.
Aber zu Fuß?
Eigentlich hatte ich da schon die Hosen voll, aber wenn man so vielen Menschen von seinem Plan erzählt hatte, blieb einem ja kaum noch eine Wahl.
Zudem war ich allein unterwegs und damit für niemanden verantwortlich. Wenn etwas schief ging und ich eine Nacht keinen Platz zum Schlafen bekäme, müsste ich lediglich mich durch irgendwelche Wälder schleppen. Ich könnte an Bahnhöfen schlafen oder unter einem Laubdach rasten und würde mir nicht noch Sorgen um jemand anderen machen.
Wenn ich dann von finsteren Gestalten überfallen und ausgenommen würde, dann wäre das nur mein Gepäck, mein Geld. Und es würde bestimmt noch eine tolle Story dabei herausspringen.
Von dem angekündigten Regen war übrigens auch nichts zu sehen und es wurde klar, dass es später auch noch sehr warm werden könnte.
Frohen Mutes griff ich also noch einmal die Wanderstöcke fester und schritt aus. Viel zu schnell, wie mir dann ein paar Kilometer weiter klar wurde. Denn da begannen die ersten Schmerzen in den Beinen. Von dem Gepäck überlastet rebellierten bereits meine Hüften, ich hatte Hunger und eigentlich schon wieder keine Lust mehr.
Kurz zuvor passierte ich einen Garten, in dem vom Besitzer zwei Jakobsmuscheln aufgestellt wurden. Die eine war mit dem typischen roten Kreuz verziert, die andere trug die Aufschrift: »Santiago di Compostella 2021 Kilometer«. Danke! Motivation geht anders. Wäre ich bereits 2000 Kilometer gelaufen, hätte das anders ausgesehen, aber so? Hechelnd wie ein Husky nach einem Rennen ließ ich mich auf eine verrottete Bank am Waldrand sinken, trennte mich von dem viel zu schweren Rucksack und drehte mir eine Zigarette.
Damit starb eigentlich schon ein erster guter Vorsatz. Unterwegs wollte ich mit dem Rauchen aufhören, aber – und da haben mir mehrere Raucher zugestimmt – das Fatale ist ja, dass so eine Zigarette eigentlich nur dann richtig gut schmeckt, wenn man gerade so richtig ausgepumpt ist und schon länger als üblich nicht geraucht hat.
Achselzuckend lehnte ich mich zurück, lauschte dem Wind, der durch die Bäume rauschte und genoss die Aussicht, die ich von diesem Waldrand aus hatte. Pläne schmiedet man, Vorsätze fasst man und Zeitpläne ändern sich. Das nennt man Flexibilität und erleichtert einem vieles. Warum sollte ich mich selber auch unter Stress setzen?
Ein Paar kam mit seinem Hund vorbei und sprach mich direkt an. Wo ich denn hin wolle. Während der gutmütig blickende Retriever sich von mir kurz hinter den Ohren kraulen ließ, beantwortete ich die Frage, wohin es denn gehen solle.
Eine Weile hörte ich mir daraufhin noch an, wie toll der Gedanke ja sei. Dann begann ich durch Körperhaltung und andere Symbolik, wie vor der Brust verschränkte Arme, zu signalisieren, dass ich nun eigentlich nicht mehr bereit sei, weitere Gespräche zu führen. Die drei gingen dann auch weiter und ich betrachtete noch eine Weile die Landschaft.
Man konnte sehr weit sehen und so saugte ich die Details in mir auf, direkt in mein Gedächtnis. Die weit entfernte Kirche, die bergige, stark bewaldete Fläche auf der einen Seite, die weitläufigen Felder auf der anderen. Bis mir dann klar wurde, dass ich mich wieder auf den Weg machen musste, denn Auersmacher, mein geplantes Tagesziel, würde nicht hier vorbeikommen.
Einige Kilometer weiter entdeckte ich zwei Schilder:
Hartungshof 2,9 km
Auersmacher 7,9 km
Ich ächzte, rückte den schweren Rucksack zurecht und trank aus der Wasserflasche.
Noch immer 7,9 Kilometer? Ich pfiff bereits aus dem letzten Loch, meine Hüften fühlten sich an, als würden sie jeden Moment ihren Dienst versagen und meine rechte Kniescheibe begann zu meutern.
Es half aber alles nichts, ich musste weiter. Ein Blick nach vorn zeigte, dass ich nicht nur noch etliche Kilometer, sondern dies auch noch über Berg und Tal vor mir hatte.
Endlich erreichte ich den Hartungshof. Ich hatte auf eine Gaststätte gehofft, in der ich vielleicht etwas essen könnte. Doch enttäuscht stellte ich fest, dass es sich hier offenbar nur um einen Hof handelt auf dem Reiter ihre Pferde einstellen können. Frustriert ging ich weiter, sah von Weitem einen weiteren Wegweiser. Eher flüchtig warf ich beim Erreichen einen Blick darauf:
Auersmacher 6,9 km
Wie konnte das sein? Nach meinen bescheidenen mathematischen Kenntnissen hätte da jetzt 5,0 stehen müssen. Fluchend stapfte ich weiter. Irgendwie hatte ich meinen Rhythmus mit den Stöcken auch noch nicht so recht gefunden und als ich nach gefühlten zwei Kilometern das nächste Schild erreichte, stand darauf:
Auersmacher 6,1 km
Was? Schob irgendeine übernatürliche Kontinentalverschiebung das Nest vor mir her? Oder waren diese Schilder einfach eine ähnliche Mogelpackung wie der Wonderbra?
Mit einem leisen, imaginären Plopp erschien ein kleines Teufelchen auf meiner Schulter.
»Gib auf«, wisperte es mir ins Ohr. Mit einem weiteren Plopp erschien ein kleines Engelchen.
»Du schaffst das schon. Es war doch klar, dass der Anfang schwer werden würde.«
»Ach was. So ein Unsinn. Pack deine müden Knochen ein und genieße deinen Urlaub daheim auf der Couch. Oder buche Last-Minute nach Malle«, wetterte das Teufelchen.
»Aber du bist im Namen des Herrn unterwegs«.
Mit dem bösen F-Wort für ihn und seinen Boss verscheuchte ich wütend das Engelchen und als Teufelchen anfing mich zu verhöhnen, auch ihn.
Ausgerechnet mir mit Zitaten aus alten Filmen zu kommen! Schon aus Sturheit würde ich jetzt nicht aufgeben. Nein, auf keinen Fall. Ich stampfte weiter und dachte bei mir:
Über diese Sturheit sollte ich einmal nachdenken.
Weitere Entfernungsschilder bewiesen meine Theorie der unnatürlichen Kontinentalverschiebung eindeutig. Oder auch dass hier einfach nur falsch ausgeschildert wurde.
Aber irgendwann, als ich schon nicht mehr daran glauben mochte, konnte ich Auersmacher am Horizont erkennen.
Endlich!
Als ich den Rand des Ortes erreichte, fühlte ich mich wie einer dieser Helden aus den Wild-West-Filmen meiner Jugend. Einer von jenen, die von Indianern, Verbrechern oder dem Gesetz gejagt durch die Wüste müssen, dort ihr Pferd verlieren und mit ihrer Feldflasche weitergehen. In meinem Fall hatte ich wohl auch den Sattel meines treuen Pferdes mitgenommen, denn der Rucksack war viel zu schwer und belastete meinen Rücken noch zusätzlich.
Ich humpelte, taumelte sogar teilweise. Ein älteres Paar, das hinter mir in Begleitung ihres gelassen wirkenden Münsterländers eingebogen war, sprach mich an. Ich sähe sehr erschöpft aus und ob sie mich ein Stück mitnehmen könnten.
Ich atmete tief durch, sandte ein Stoßgebet zum Dank an den Boss des Engelchens und willigte nur allzu bereit ein. Zur Herberge konnte es nicht mehr weit sein und so ersparte ich mir eine letzte Pause.
Erstaunlicherweise passten sowohl der Hund als auch das Paar, mein Rucksack und ich in den Polo. Ich erfuhr, dass auch die beiden sehr oft und gerne wandern und bereits Teile des Jakobsweges in Frankreich gelaufen waren. Allerdings immer ohne Übernachtung, weil das mit dem Hund sehr schwierig sei. Traurig dachte ich kurz daran, dass ich Jerry immer versprochen hatte, dass wir mal zusammen so eine Wanderung machen würden. Doch als die Möglichkeit endlich da war, war er schon zu alt und gebrechlich.
Das Ehepaar brachte mich zu der Herberge in Auersmacher und beruhigte mich, als ich zunächst telefonisch niemanden erreichen konnte:
»Wenn das dort mit dem Übernachten nicht funktioniert, bringen wir sie zu den Barmherzigen Brüdern in Hanweiler. Das ist der nächste Ort. Die haben ein Altenheim, in dem sie auch Pilger unterbringen.«
Ich fragte mich dann kurz, wie ich wohl auf die beiden wirken musste: ausgepumpt, überladen und todmüde. Und das schon am ersten Tag. Ob das der Grund für ihre Hilfsbereitschaft gewesen ist?